Gedenktag

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Am 27. Januar 2025 gedachten rund 50 Personen auf dem Rüdersdorfer Kolonistenfriedhof den Opfern des Nationalsozialismus. Umrahmt von Ilya Ananyin am Saxophon begann die Gedenkveranstaltung mit einer Redevon Renate Radoy, selbst Zeitzeugin. Sie schilderte Ihre Erlebnisse am Ende des zweiten Weltkrieges und machte deutlich, dass viel zu oft geschwiegen wurde. Genau deswegen, so Renate Radoy, sei die Erinnerung so wichtig, was Sie mit dem Gedicht "Gegen das Vergessen" untermauerte:

Gegen das Vergessen

von Karl Retzler

Nein, du trägst keine Schuld daran, was deine Eltern, Großeltern, Verwandten und Bekannten getan haben.
Doch, doch du machst dich mitschuldig, wenn es wieder passiert!

Nein, du trägst keine Schuld daran was passiert ist, 
als du ein Kind warst oder was vor deiner Geburt geschah.

Doch, doch machst dich mitschuldig,
wenn es wieder passiert!

Du machst dich mitschuldig, wenn du zulässt,
dass es verharmlost wird!
Du machst dich mitschuldig, wenn du zulässt,
dass es vergessen wird!

Du machst dich mitschuldig, wenn du zulässt,

dass wiederum Menschen wegen ihrem Glauben, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Ausrichtung,
ihrer körperlichen, gesundheitlichen, geistigen Einschränkungen
verunglimpft, ausgegrenzt, verfolgt oder gar getötet werden!

Du machst dich schuldig, wenn du den neuen Nazis nachläufst,
sie verharmlost, unterstützt oder gar ein Teil von ihnen bist!
Niemals mehr soll jemand sagen: ich habe es nicht gewusst!
Niemals mehr soll jemand sagen: ich hatte keine Wahl!
Niemals mehr soll jemand sagen: was hätte ich denn dagegen tun können.
Niemand braucht und niemand will ein zweites 1933-1945!
Die Wahl hast du! Du kannst sehen und hören!

Und vor allem:
Du kannst handeln!
Gegen das Vergessen!
Gegen dass Augen verschließen!
Gegen das Nichtstun!

Es folgte die

Rede von Bürgermeisterin Sabine Löser
(es gilt das gesprochene Wort):

"Vielen Dank, liebe Renate Radoy.

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Anwesende,

Erinnern ist die Arbeit an der Zukunft. Heute vor 80 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Innerhalb von fünf Jahren wurden rund 1,3 Millionen Menschen in das Konzentrationslager Auschwitz mit seinen Nebenlagern deportiert.


1,1 Millionen Menschen wurden allein dort ermordet, unter ihnen rund 960.000 Jüdinnen und Juden. Auschwitz steht bis heute weltweit als Symbol für den massenhaften, systematischen Mord an Jüdinnen und Juden. Unter den weiteren Opfern waren Roma und Sinti, sowjetische Kriegsgefangene, Homosexuelle, politische Gegnerinnen und Gegner und viele mehr. Kurzum, alle, die nicht in das menschenverachtende Weltbild der Nationalsozialisten passten.

1,1 Millionen Menschen zwischen dem 20. Mai 1940 und dem 27. Januar 1945. Man muss sich das mal versuchen vorzustellen – 1,1 Millionen Menschen, innerhalb von 55 Monaten. Es bleibt uns schwer begreiflich, allein die schiere Zahl. Aber auch die Schicksale dahinter, die Angehörigen, das Leid der Menschen, die überlebten.

Die sowjetischen Soldaten sprachen nach der Befreiung von lebenden Toten, die sie dort vorgefunden haben.

Wenn nun 80 Jahre danach Mandatsträger, auch auf Bundes- und Landesebene, ohne Scham rassistische, antisemitische oder Holocaust verleugnende Aussagen tätigen, dann sind wir genau an dem Punkt, den Renate Radoy in ihrem Gedichtvortrag deutlich machte:


„Niemals mehr soll jemand sagen: Ich habe es nicht gewusst.“
„Niemals mehr soll jemand sagen: Ich hatte keine Wahl.“
„Niemals mehr soll jemand sagen: Was hätte ich denn dagegen tun können?“

Wir alle wissen, wohin Hass und Hetze führen. Verunglimpfung, Denunziation und Verleugnung sind heute leichter denn je zu transportieren und zu vervielfältigen.

In ihrer Rede bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag sagte Rozette Kats, 1942 in Amsterdam als Kind jüdischer Eltern geboren:

„Heute bin ich 80 Jahre alt. Ich habe nicht vergessen, wie schlimm es ist, sich verleugnen und verstecken zu müssen. Darauf gibt es nur eine Antwort: Jeder Mensch, der damals verfolgt wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung. Jeder Mensch, der heute verfolgt wird, hat Anspruch auf unsere Anerkennung und unseren Schutz!“

Und das noch: „Ich wünsche mir für unsere Kinder, für alle Kinder dieser Welt, dass jede Form von Diskriminierung, aber im Extrem auch Kriege, wo auch immer in der Welt, nicht als normal empfunden werden müssen, sondern als schreckliche Abweichungen, die es zu überwinden gilt!“

In einer Welt, in der zunehmend polarisiert wird, in der wir die Wahrheit meist nicht länger als ein Tweet sein lassen, müssen wir wieder lernen zuzuhören. Einander anzuhören. Aber auch Widerspruch auszuhalten.

Wenn ich heute höre und lese, man müsse für Meinungsfreiheit kämpfen, dann ist das gelebte Geschichtsklitterung und letztendlich auch Häme über die Opfer des Nationalsozialismus. Man darf in unserer freiheitlichen Demokratie erst einmal alles sagen, solange man sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt. Man muss aber eben auch den Widerspruch aushalten. Genau das unterscheidet uns von autokratischen Regimen – wir können streiten, wir können Meinungen äußern, wir können widersprechen.

Und genau deswegen halte ich es für so notwendig, dass wir erinnern und zuhören – denn nur, wenn wir verstehen, wohin Hass und Hetze, Ausgrenzung und Nationalismus führen, können wir begreifen, dass wir uns mitschuldig machen, wenn es wieder passiert.

Sehr geehrte Damen und Herren,
wir leben in einer stabilen Demokratie, wir leben in einem weltoffenen Europa. Vor 80 Jahren, also vor einem Menschenleben, lag Europa in Trümmern und eine nicht vorstellbare Grausamkeit wurde beendet. Lassen Sie uns der Opfer gedenken und gleichzeitig begreifen, welchen Schatz wir mit unserer demokratischen Verfasstheit besitzen, den es zu verteidigen gilt. Die Lehre aus Auschwitz muss sein, dass Auschwitz nie wieder sei. Und „nie wieder“ ist jetzt!

Ich danke Ihnen."